Kiev "ehemalige ZwangsarbeiterInnen"

Ausstellungsprojekt Zitadelle Spandau , Berlin 2003

 

Osterreise in die Ukraine.


Von Jan Illig.

Während sechs „Spendenreisen“ innerhalb der letzten zwei Jahre hat KONTAKTE-KOHTAKTbI e.V. bereits über 170 000 DM an besonders notleidende ehemalige Zwangsarbeiter vergeben. Die Spendengelder stammten von Menschen in Deutschland, für die der faschistische Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion noch nicht „abgehakt“ ist.

So leben allein in der Ukraine zum heutigen Tage noch über 500 000 alte Menschen, die seinerzeit nach Deutschland deportiert wurden und unter schwersten Bedingungen in der deutschen Industrie und Landwirtschaft arbeiten mußten. Viele von ihnen werden niemals in den Genuß der Kompensationszahlungen der deutschen Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ kommen.

Die private materielle Hilfe aus Deutschland kann in vielen Fällen die materielle Not ehemaliger Zwangsarbeiter lindern – das ist das eine. Ein anderer Aspekt betrifft jedoch die psychischen Folgen, welche die gewaltsame Verschleppung der damals jungen Menschen in das Dritte Reich ausgelöst hat.

Zwangsarbeiter galten in der Sowjetunion bis zum Beginn der Perestroika als Landesverräter. Ihnen wurde vorgeworfen, dass sie während des Krieges für den Feind gearbeitet hätten. Viele von ihnen wurden unmittelbar nach ihrer Befreiung durch die Rote Armee in stalinistische Arbeitslager eingewiesen.

Es wäre heilsam gewesen, wenn die ehemaligen Zwangsarbeiter über die in Deutschland durchlebten traumatischen Erlebnisse, ihre Ängste und erfahrenen Erniedrigungen hätten berichten können, haben doch in vielen Fällen nicht einmal die eigenen Kinder von der Kriegsbiographie ihrer Eltern erfahren.

Auch noch heute, 15 Jahre nach Beginn der großen gesellschaftlichen Umwälzungen, nach dem Zerfall der Sowjetunion, fällt es vielen schwer, über ihre Vergangenheit als Zwangsarbeiter zu sprechen …

Vom 26. März bis zum 6. April 2002 startete die erste Seminarreise zum Thema Zwangsarbeit und Krieg in die Ukraine.

Das Hauptanliegen bestand darin, über die Gewährung humanitärer materieller Hilfe hinaus, den Kontakt zu ehemaligen Zwangsarbeitern zu suchen. Die Reise sollte eine Begegnungsfahrt werden, während derer interessierte Deutsche ehemalige Zwangsarbeiter und deren Heimat kennenlernen konnten.

Humanitäre Hilfe erfolgt in den meisten Fällen aus der Ferne, aus einer „sicheren“ Distanz. Private Treffen können menschliche Nähe erzeugen – eine Nähe, bei der es nicht nur ein Geben und Nehmen gibt, sondern vor allem einen freundschaftlichen Austausch auf gleicher Augenhöhe.

Auf den Gleisen der Deportation.

Langsam zuckelte unser ukrainischer Zug von Berlin in Richtung Kiew. Wir hatten uns für die Anreise mit der Eisenbahn entschieden, um von Anfang an so tief wie möglich in die Welt unserer südöstlichen Nachbarn eintauchen zu können.

An Städtenamen wie Berlin, Frankfurt/Oder, Posen, Warschau, Lublin, Kowel, Sarny, Kiew können sich auch viele der ehemaligen Zwangsarbeiter entsinnen, denn dies waren vor fast 60 Jahren auch jene Stationen, die sie auf ihrem Weg in die Zwangsarbeit passierten.

Im Jahre 2002 reiste unsere deutsche Reisegruppe allerdings nicht in Viehwaggons, sondern in bequemen Schlafwagen. Und unsere Reise dauerte nicht wie die der ehemaligen Deportierten auf Grund der ständigen Bombardements bis zu drei Wochen, sondern nur 27 Stunden. Wir bekamen im gemütlichen Zugrestaurant gutes ukrainisches Essen sowie landesübliche Getränke wie Tee, Säfte, ukrainisches Bier und natürlich auch ukrainischen Horilka (Wodka) serviert.

Nachdem unser Zug an der polnisch-ukrainischen Grenze auf die breiteren osteuropäischen Gleise umgesetzt worden war, empfing uns an der ersten Bahnstation in der Ukraine, Kowel, der ehemalige Zwangsarbeiter Wladimir Woloschkin.

Viele von uns waren zuvor nie in der Ukraine gewesen und noch nie ukrainischen Menschen begegnet. Wie verhält man sich gegenüber einem ehemaligen Zwangsarbeiter, wie wird er reagieren, wenn er Angehörige des Volkes trifft, dem er seine Jugend geopfert hat? Auf diese Fragen gab es weder in der wissenschaftlichen Literatur noch in dem zuvor ausgegebenen Infomaterial zu Zwangsarbeit und Krieg Antworten.

Wladimir Woloschkin trägt keinen Gram mehr in seinem Herzen und keine Wut. Er sagte, er sei gekommen, um seinen deutschen Gästen ein Stück seiner schönen Heimat zu zeigen. Gläser (rjumotschki) hatte er von zu Hause mitgebracht – und zu Beginn seiner kleinen Einführung, so Wladimir Woloschkin weiter, sollte erst einmal auf den Frieden und auf die junge Generation angestoßen werden, auf daß wir uns besser kennenlernten und darauf, daß sich kein Volk mehr über ein anderes erheben möge.

Fast drei Stunden dauerte die Fahrt von Kowel zum 150 Kilometer entfernten Sarny, wo uns Herr Woloschkin wieder verließ. Während dieser Zeit berichtete er uns nicht nur über sein persönliches Schicksal, sondern auch über die westliche Ukraine, das alte Wolhynien, über die heutigen Lebensbedingungen der Menschen auf dem Lande.

Unser Zug traf um 1.30 Uhr in der Nacht, mit eineinhalbstündiger Verspätung, auf dem nächtlichen Kiewer Passagierbahnhof ein. Wir wurden erwartet, von Freunden aus dem Kiewer Verband der Opfer des Nazismus.

„Ja, in der Ukraine dauert alles etwas länger, trotzdem herzlich willkommen!" – begrüßte uns Nadeshda Slesarjowa. Die 75jährige ließ es sich nicht nehmen, uns „jungen, müden Leuten“ einige Gepäckstücke abzunehmen und zum bereitstehenden Bus zu tragen, der uns zum Hotel bringen sollte.

Auch das Hotel hatte sie für uns reserviert, der größte Teil der Reiseplanung lag auf ihren Schultern. Sie wollte nichts aus der Hand geben – schließlich sollte uns, so Nadeshda, die Ukraine und ihre Hauptstadt in bester Erinnerung bleiben. Es sei ihr Wunsch, daß noch mehr Leute aus Deutschland nach Kiew kommen, auch junge Leute. Die Ukrainer seien ein gastfreundliches, aber auch ein stolzes Volk, mit einer reichen Geschichte.

Nadeshda Slesarjowa war nach ihrer Zwangsarbeit noch mehrmals in Deutschland, obwohl sie so schreckliches Leid von Deutschen erfahren hatte. Ja, an den Folgen der medizinischen Experimente, welche man im Konzentrationslager an ihr durchführte, leide sie noch immer, berichtet sie.

Trotzdem zöge es sie immer wieder nach Deutschland zurück. Es sei ein schönes Land, und die meisten Menschen seien auch gut. Natürlich habe sie auch von den Neofaschisten gehört, welche wieder von einer höheren Rasse reden. (Nadeshda zeigte auf uns und sagte scherzhaft: „Ich meine, es handelt sich um Ihre Rasse.“) Doch dies dürfe nicht mehr sein.

Sie habe erfahren, daß die Deutschen wenig über die Ukraine wissen. All die neuen Theorien rührten eben aus der Unkenntnis voneinander her – und deshalb sei es so wichtig, daß wir Deutschen kämen und unseren Landsleuten von unseren Erfahrungen aus der Ukraine berichteten.


Die Mutter aller russischen Städte.


Kiew in nur drei Tagen zu besichtigen, ist fast unmöglich. Dies merkten wir sehr bald. Es ließe sich bereits drei Tage lang von der langen und interessanten Geschichte der „Mutter aller russischen Städte“ berichten, die heute Hauptstadt der unabhängigen und auf staatliche Eigenständigkeit gegenüber Rußland bedachten Ukraine ist.

Kiew ist über 1500 Jahre alt und gilt zu Recht als Keimzelle der russischen Kultur. Im Kiewer Höhlenkloster, auf dem linken Hochufer des Dnepr-Stromes, entstanden im 10. Jahrhundert die ersten russischsprachigen schriftlichen Zeugnisse.

Nicht weit von hier begann im Jahre 987 mit der zwangsweisen Taufe der gesamten Stadtbevölkerung die Christianisierung des bereits für mittelalterliche Verhältnisse riesigen Landes, der Kiewer Rus.

Im 13. Jahrhundert war die alte russische Hauptstadt eine der reichsten und größten Städte unseres Kulturkreises und auf Grund ihrer Randlage auch ein willkommenes Beuteopfer für Interventen.

Daran hat sich bis in die neueste Geschichte hinein nichts geändert. Im 13. Jahrhundert waren es mongolischen Reiterhorden, welche die Stadt ausraubten und bis auf ihre Grundmauern zerstörten, bis zum 17. Jahrhundert befand sich Kiew in der polnischen Einflußzone. Kaum hatte sich im Jahre 1917 die selbständige Ukrainische Volksrepublik deklariert, wurde sie zwei Jahre später aus strategischen Gründen auch schon wieder von Sowjetrußland absorbiert.


Verbrannte Erde.


Trotz der Jahrhunderte währenden Fremdherrschaft konnte sich ab dem 17. Jahrhundert jedoch die ukrainische Identität, Kultur und Sprache herausbilden und auch behaupten. Keiner der Besatzer hatte es darauf abgesehen, das ukrainische Volk auch seiner Seele zu berauben.

Dieser leidvollen Prüfung wurde das Land erst im Zweiten Weltkrieg unterzogen. Zwischen 1941 und 1944 ging es in dieser Beziehung um das nackte Überleben – die berühmte „Kornkammer Europas“ sollte nach den Plänen der deutschen Kriegsstrategen nicht nur ausgeplündert werden. Millionenfach wurden die Menschen, die den Reichtum des Landes erwirtschafteten, aus der Ukraine zur Zwangsarbeit nach Deutschland verschleppt oder vernichtet.

Auch Kiew wurde, wie zuvor schon mehrere Male, zerstört. Doch die Zerstörungen waren dieses Mal nicht „nur“ Kriegsfolge, sondern eiskaltes Kalkül und Folge der Taktik von der „verbrannten Erde“.

Im Museum für die Geschichte des Großen Vaterländischen Krieges in Kiew berichtete uns die Museumsleiterin Marina Schewtschenko von der Begegnung mit einem überlebenden Zeitzeugen.

Auf die Frage, was für den alten Mann „verbrannte Erde“ bedeutete, ging dieser mit Frau Schewtschenko vor das Museum. Hier reichte er ihr eine Handvoll Erde und forderte sie auf, diese Erde zu entzünden.

Marina Schewtschenko beschrieb uns, wie sie versuchte, die Erde in Brand zu setzen. Sie hätte eine ganze Schachtel Streichhölzer verbraucht und nicht einmal mit einem Feuerzeug sei es ihr gelungen, auch nur etwas Qualm zu erzeugen.

Daraufhin fragte sie der alte Mann, ob sie sich nun vorstellen könne, was es bedarf, wenn Erde kilometerweit brennt, und mit welchen Empfindungen man so etwas mit ansehen mußte.

 

Kiew im Jahre 11 der unabhängigen Ukraine ist wiedererstanden, und die Wunden des Krieges sind, oberflächlich betrachtet, nicht mehr zu erblicken. Auf unserer Stadtrundfahrt präsentierte sich uns eine große, grüne, freundliche und belebte Stadt, reich an Denkmälern der Geschichte und Gegenwart.

Die Kirchen und andere mittelalterliche Bauten wurden nach alten Plänen zum größten Teil wiederaufgebaut. Mehrmals schlenderten wir über den Kreschatik, die breite Prachtstraße, genossen hier am Abend vor dem neobarocken Unabhängigkeitsdenkmal die Darbietungen von Kiewer Straßenkünstlern und kehrten am letzten Abend nach dem Besuch des Opernhauses in einem Jazzclub ein.

Selbst das Museum des großen Vaterländischen Krieges und dessen architektonischer Mittelpunkt, die über 100 Meter hohe Statue der „Mutter Heimat“, welche von jedem Ende der Stadt zu sehen ist, stellt heutzutage eine städtische Sehenswürdigkeit dar. Museum und Heldenstatue sind ein äußerliches Symbol des Sieges, ein Symbol dafür, daß es niemals gelungen ist, das Volk gewaltsam zu „entseelen“.

Diese äußerliche Seite ist eine Dimension des letzten Krieges, die wir während unserer Reise kennengelernt haben, die man auch kennen muß, wenn man die Ukraine und ihre Menschen begreifen möchte.

Das heutige Kiew präsentiert sich jeder geführten Reisegruppe zuerst als touristischer Höhepunkt. Die stillen Töne und damit das hinter dem Offiziellen Verborgene vernimmt man erst auf Nachfrage und oft nur ganz privat. Diese stille Dimension erfordert Einfühlungsvermögen, Phantasie, Ausdauer und Interesse an Privatem.

Nachdem uns der erste Tag in Kiew sehr viel Touristisches geboten hatte, mussten wir uns gleich am ersten Abend (vielleicht zu schnell) umorientieren. Unser Gastgeber, der ukrainische Opferverband, hatte uns zu einem gemeinsamen Abendessen und Kennenlerntreffen eingeladen. Hierfür hatte Nadeshda Slesarjowa ein kleines Café in einem der großen Neubauareale von Kiew, im Charkowski Rayon, gemietet. Dazu hatte sie zehn ehemalige Zwangsarbeiter eingeladen.

Der Vorsitzende des Opferverbandes, Mikojan Dimidow, eröffnete den Abend mit einem landesüblichen Toast.

Nach dem ersten Tag in Kiew waren alle Reiseteilnehmer so müde, wie man nach Stadtführungen nur sein kann. Doch spät abends, nach unserem ersten Treffen mit den ehemaligen Zwangsarbeitern aus dem Kiewer Opferverband, noch während der Heimfahrt in das Hotel, bemerkte eine Teilnehmerin, daß sie sich gern noch länger unterhalten hätte – man kann sagen, daß die Brücke zwischen oberflächlicher Wahrnehmung und tieferem Empfinden geschlagen war.

Die Kriegswaisen, welche in den Jahren 1945 bis 1961 in Vera Wasadinas Kinderheim Unterschlupf gefunden hatten, sind heute Rentner. Die ehemalige Leiterin ist noch heute für sie wie eine Mutter, versucht zu helfen, wo sie kann und, so Tanja Blisnizowa (65), muß auch manchmal schimpfen.

Nein, sie habe bei ihrer Arbeit nach dem Krieg kein konkretes pädagogisches Konzept verfolgt, antwortete Frau Wasadina auf eine der Fragen von unseren Reiseteilnehmern. Sie war damals selbst noch so jung, woher da die pädagogische Bildung und ein pädagogisches Konzept?

Sie seien bis heute eine große Familie, bemerkte Ljudmila Kudrjaschowa, ein ehemaliges Heimkind – das sei das pädagogische Konzept.

Die Kinder kamen aus der Ukraine und aus Weißrußland, teilweise kamen sie direkt aus deutschen KZs, die Eltern waren dort ums Leben gekommen.

Es ging anfangs darum, so Vera Wasadina weiter, die kleinen Körper am Leben zu erhalten. Viele Kinder waren, als sie ins Waisenhaus kamen, in einem schrecklichen Gesundheitszustand, einige waren sogar Blutspender für deutsche Soldaten gewesen.

Später hätten die älteren Heiminsassen Verantwortung für die jüngeren übernommen – es gab ja im Krieg und kurz danach gar nicht genügend Erzieher.

Natürlich gab es eine Heimordnung; anders hätte es nicht funktioniert bei 287 Kindern.

Vera Wasadina geleitete uns in ihr damaliges kleines Büro. Heute werden hier die zahlreichen Fotoalben und Erinnerungsstücke aufbewahrt. Das Krankenhaus, das sich heute in dem Gebäude des Kinderheims befindet, hat den alten Leuten das Büro als Anlaufstelle belassen. Zehn ehemalige Waisenkinder waren gekommen. Wir wurden mit Kaffee und Kuchen bewirtet und konnten uns mit ihnen unterhalten.


Babij Jar.


Die kurze Zeit des Aufenthalts der Reisegruppe wurde dazu genutzt, um mit möglichst vielen von Zwangsarbeit und Kriegsbesatzung Betroffenen ins Gespräch zu kommen. Wir wurden überall mit offenen Herzen empfangen.

So hatten wir uns am Morgen, bevor wir Vera Wasadinas ehemaliges Waisenhaus besuchten, bereits mit einem jüdischen Überlebenden des Massakers von Babij Jar, Herrn Wassili Sirotinski, verabredet.

Babij Jar befindet sich in der Nähe des Zentrums von Kiew und ist über die Metrostation Doroschitschi zu erreichen. Die ehemals am Stadtrand gelegene Schlucht wurde eingeebnet, nachdem über Jahre hinweg sterbliche Überreste von über 100 000 Ermordeten geborgen wurden.

Heute ist Babij Jar auf den ersten Blick ein Park. An den Völkermord während der deutschen Besatzung Kiews erinnern mehrere kleine Denkmäler, zum Beispiel das umstrittene sowjetische Denkmal aus dem Jahre 1967, das jüdische Denkmal von 1991 sowie ein orthodoxes Kreuz.

Ohne Wassilij Sirotinski hätten wir uns keine Vorstellung von diesem Ort machen können. Genau wie im Waisenhaus von Vera Wasadina die ehemaligen Heiminsassen aus ihrem Leben berichteten, erzählte uns Herr Sirotinski von seinem Schicksal.

Auch er war im Krieg noch ein kleines Kind. Er mußte drei Mal seinen Vornamen wechseln, um unter der deutschen Besatzung nicht als Jude aufzufallen. Nur durch seinen neuen russischen Vornahmen gelang es, den geschwächten Jungen, der durch einen großen Zufall vor dem Tod in Babij Jar gerettet worden war, offiziell in einer Kinderstation aufzunehmen. Hier waren die Bedingungen, so Wassili Sirotinski, ein klein wenig besser als auf der Straße.

 

Nur wenige Kilometer südlich von Kiew wird die Erde schwarz und klebrig. Bis zum Horizont reichen die fruchtbaren Felder, und nur in größeren Abständen führt die nach dem Krieg durch deutsche Kriegsgefangene wieder instandgesetzte Autobahn Kiew-Uman-Odessa durch größere Orte.

An einigen Streckenabschnitten, meistens in der Nähe von Tankstellen, sind wahrhafte Karawansereien entstanden. Hier machen die übermüdeten PKW- und LKW-Fahrer halt, überall wird frisches Essen und Trinken angeboten, auch Trockenfisch, Haushaltswaren, Kleidung.

Die ukrainische Provinz ist arm, obwohl der Reichtum des Landes schon immer maßgeblich in der Provinz erzeugt wurde – Kohle und Erz, landwirtschaftliche Produkte wie Korn, welches bis zur Oktoberrevolution in die ganze Welt exportiert wurde. Die Gewinne und Steuergelder standen allerdings zuerst Kiew und einigen anderen großen ukrainischen Städten zur Verfügung.

Eine gänzlich neue Methode der Ausbeutung des ukrainischen Landes entwickelten während der Besatzung von 1941 bis 1944 die Deutschen: Sie raubten nicht nur die Güter, sondern dazu gleich noch deren Erzeuger. Allein aus dem 500-Seelendorf Dzensiliwka, wo unsere Reisegruppe zwei ganze Tage verbrachte, wurden während der Besatzung über 200 Einwohner zur Zwangsarbeit nach Deutschland verschleppt.

Der Besuch der Kontakte-Reisegruppe aus Deutschland war in Dzensiliwka schon frühzeitig angekündigt worden. Hier in Dzensiliwka wurde Marina Schubarth vor fünf Jahren zum ersten Mal direkt mit den Problemen noch lebender ukrainischer Zwangsarbeiter konfrontiert. Die Idee zu den oben bereits erwähnten Kontakte-Spendenreisen hatte in Dzensiliwka ihren Ausgangspunkt.

Nun, zu Ostern 2002, kam Marina nicht allein, sondern mit einer ganzen Gruppe von Deutschen, die bereit waren, sich ganz persönlich mit der Geschichte von Krieg und Zwangsarbeit konfrontieren zu lassen.

Unsere Treffen auf dem Lande unterschieden sich allerdings sehr von den Erlebnissen in Kiew. Die Möglichkeiten zum Gedanken- und Informationsaustausch sind auf dem Dorf sehr beschränkt und der Besuch von Ausländern, noch dazu von Deutschen, löste unter den Dorfbewohnern ganz besondere Emotionen aus.

Anders als ursprünglich vorgesehen, trafen wir statt zehn über fünfzig ehemalige Zwangsarbeiter. Viele von ihnen kamen auch aus umliegenden Dörfern und waren, nachdem sich unser Besuch herumgesprochen hatte, extra angereist. Viele hatten auch persönliche Fragen an Marina Schubarth.

Zu einem Besuch in das ehrenamtlich geführte Heimatmuseum eingeladen, führten wir Diskussionen über Geschichte und Politik. Vieles, was wir sahen und hörten, war auf den ersten Blick nur schwer zu begreifen.

In den Köpfen wirbelte es durcheinander. In jedem Hause erwartete uns ein reich gedeckter Tisch, und wir schafften es nicht einmal, alle Menschen zu besuchen, die auf uns gewartet hatten. Die deutschen Gäste wurden für die Nacht von Familien aus dem Dorf privat aufgenommen. Einige von uns setzten, wenn sie nicht sofort ins Bett fielen, die Unterhaltung mit den Gastgeberfamilien noch bis in die späten Nachtstunden fort.

Immer wieder ging es um die Auszahlung der Entschädigungsgelder an ehemalige Zwangsarbeiter. Viele von ihnen haben keine Aussicht, solche Zahlungen zu erhalten, da ihnen entweder die nötigen Dokumente abhanden gekommen sind oder ihre Anträge an die Stiftung nur schleppend beantwortet werden.

Manche alte Menschen fürchten, daß sie bereits gestorben sein könnten, wenn schließlich doch noch eine positive Antwort bei ihnen eintrifft.

Nach unserer Rückkehr aus Dzensiliwka besuchten wir den für die Auszahlung der deutschen Kompensationsgelder zuständigen Ukrainischen Nationalfonds. Nach den zahlreichen privaten Begegnungen und Eindrücken der vorangegangenen Tage hatten viele von uns die Möglichkeit, einmal bei politischen Verantwortungsträgern nachzufragen.

So erfuhren wir, daß die vorgesehene und von der deutschen Stiftung bereitgestellte Geldmenge nicht einmal dazu ausreiche, allen Betroffenen auch nur eine symbolische Zahlung zukommen zu lassen. Von einer nachträglichen Arbeitsentlohnung, so eine Angestellte der Institution, könne gar keine Rede sein.

Diese Auskunft blieb uns natürlich wie ein Kloß im Halse stecken: Sollte tatsächlich mit Verzögerungstaktik und Ratenzahlungen darauf gesetzt werden, daß viele alte Menschen ihren Anspruch überhaupt nicht mehr wahrnehmen können?

So fuhren wir am 5. April mit gemischten Gefühlen zurück nach Berlin. Die Zugfahrt war auch diesmal lang. Wieder verweilten wir lange Zeit im Zugrestaurant.

Doch da war nicht nur der Abschied von neugewonnenen Freunden. Wir erinnerten uns gern an die herzlichen Treffen und an die Schönheit von Kiew. Nein, es stellte sich auch das Gefühl ein, daß man nicht, wie sonst im Zusammenhang mit einer Reise, einfach wieder nach Hause zurückkehren und als nächstes nach der Ankunft die Fotos entwickeln würde. Man fühlte sich verantwortlicher und nachdenklicher.

Es war klargeworden, daß in der Ukraine wenig so ist, wie man es in den Medien aus Deutschland darstellt. Das betrifft sowohl die allgemeine Schilderung von Land und Leuten als auch den propagierten Glauben, daß etwas mehr als fünf Milliarden Euro einen Schlußstrich unter die von Deutschen in der Ukraine verübten Schandtaten ziehen könnte.